Auf der Flucht

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Beschreibung

„Die Kaminski-Kids“ Band 5

 Brunnen Verlag, Basel
176 Seiten, Hardcover gebunden, mit Illustrationen von Lisa Gangwisch

Im verschneiten Ferienort ihres Snowboard-Lagers lernen die Kaminski-Kids zwei Kinder kennen. Diese geben sich nach außen hin cool, doch schon bald wird klar, dass die beiden ziemlich in der Klemme stecken. Die Kaminski-Kids versuchen den Kindern zu helfen, geraten dabei aber selbst zwischen die Fronten und müssen mit ihrem Collie-Hund türmen. Auf der Flucht durch Schnee und Eis finden sie Unterschlupf in einer einsamen Berghütte. Doch als sie dort entdeckt werden, gibt es kein Entrinnen mehr …

„Sogar lesefaule Kinder werden durch die Kaminski-Kids zu Leseratten! „Schweizer Illustrierte

Empfohlen durch das Schweizer Jugendwerk Pro Juventute.

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Leseprobe aus „Die Kaminski-Kids: Auf der Flucht“

 1. Herberge ALPEN-TRAUM

„Ein bisschen aufgeregt bin ich schon …“
Raffi schleppte ihre Reisetasche zu Simon und Debora in die Diele des Kaminski-Hofs. Alle drei Kids trugen bereits ihre Winterjacken und schlüpften nun in die Stiefel. Ihr Collie-Hund Zwockel schnupperte neugierig an den herumstehenden Gepäckstücken.
„Habt ihr auch alles dabei?“ fragte Vater. „Handschuhe, Wollmütze, Skibrille, Urlaubsgeld?“
Simon und Debora warfen sich einen Blick zu. „Na klar – wir sind doch keine Babys mehr!“
„Ich weiß sehr genau, wie alt ihr seid.“
„Ach ja? Da bin ich aber mal gespannt!“ Debora musterte ihn aufmerksam, denn manchmal brachte Vater ihre Geburtstage tatsächlich durcheinander. Seine Zerstreutheit rechtfertigte er jeweils mit der vielen Arbeit im Blumengeschäft der Familie.
„Tja, warte mal …“ murmelte er. „Simon ist vierzehn, Debora zwölf, und Raffaela …“ Nachdenklich legte er die Hand ans Kinn. „Jetzt hab ich’s: Sieben! Du bist sieben!“
„Ja Pingu!“ rief Raffi. „Ich bin neun! Neuneinhalb sogar!“
„Und bald wirst du zehn, weiß ich doch!“ Auf Vaters Gesicht breitete sich ein verschmitztes Lächeln aus. „War nur ein kleiner Scherz! Na, komm, Große!“ Überschwänglich schloss er Raffi in die Arme und drückte sie fest an sich. „Ich wünsche euch viel Spaß im Snowboard-Camp!“
Zum Abschied streichelte Debora liebevoll über Zwockels wuscheliges Fell. „Dürfen wir Zwockel wirklich nicht mitnehmen ins Lager, Papi?“
„Leider nein. Hunde sind in der Herberge strikte verboten.“
„Euer Reisebus ist da!“ rief Mutter. „Er ist grade auf den Vorplatz gefahren!“ Sie trat aus der Küche, von wo es verführerisch nach frisch gebackenem Brot duftete, und brachte jedem Kind belegte Stullen für unterwegs.
Hinter ihr tappte Opa in die Diele. Verstohlen wischte er sich einen Krümel aus dem Mundwinkel.
„Hast du wieder mal genascht, Opa!“ neckte Simon.
„Ich musste doch vorkosten“, schmunzelte der alte Mann, der fast blind war, dafür aber umso besser hören und riechen konnte. „Um sicherzugehen, dass wir euch absolut einwandfreie Backware mitgeben!“ Schelmisch zwinkerte er den Kids zu. „Es wird euch ganz kurz vorkommen, bis ihr Zwockel wieder seht! Ihr werdet staunen!“
„Jetzt hätte ich um ein Haar das Geschenk für Zwockel vergessen!“ Aufgeregt holte Raffi eine Tüte und zog daraus einen Spielzeugknochen hervor. „Hier, für dich! Damit du uns nicht so vermisst!“
Zwockel schnappte sich den harten Gummiknochen und begann genüsslich darauf herum zu kauen.
„Aber nicht gleich aufessen, ja!“ Lachend trat die Familie aus dem Haus ins nasskalte Wetter hinaus. Unter dem verhangenen Himmel ging der Schneeregen eben in Regen über. Das Kopfsteinpflaster glänzte vor Nässe.
Die Kaminski-Kids trugen ihre Reisetaschen und die gemieteten Snowboards zum Autobus, der bereits voller Kinder war. In diesem Moment sprang Petra, die Leiterin des Jugendtreffs PLANET7, aus dem Bus. „Hallo! Schön, dass ihr dabei seid!“ rief die junge Frau mit dem kurzen schwarzen Haar. Sie fuhr als Lagerleiterin mit, was die Kids besonders freute, denn sie hatten Petra sehr gern.
Während der Fahrer ihr Gepäck einlud, verabschiedeten sich die Kids von Zwockel und Opa. Mutter und Vater gaben allen dreien einen Kuss auf die Wange, was Debora gar nicht gefiel – sie hatte das Gefühl, die ganze Clique im Bus schaue zu und lache sich kringelig, wie ihre Eltern sie hier in aller Öffentlichkeit abknutschten.
Als das Geküsse endlich vorbei war, stiegen die Kids in den Reisebus und suchten sich freie Plätze. Sie kannten die meisten Kinder vom Jugendtreff und wurden ringsum grinsend begrüßt.
„Genau wie ich befürchtet hab“, murmelte Debora leise, während sie sich in die hinterste Reihe setzte. Hier hoffte sie erstmal, dass keiner mehr sie anstarren würde. Doch wie sie zu ihrer Erleichterung feststellte, waren alle schon wieder mit Gesprächen beschäftigt, schoben sich Walkman-Stöpsel in die Ohren oder tippten auf ihren Handys herum.
Der Bus ruckte an und fuhr über den Vorplatz los. Durch die verschmierte Rückscheibe sahen die Kids ihre Eltern und Opa, die ihnen nachwinkten. Zwockel rannte hinter dem Autobus her, bis dieser in die Landstraße abbog. Brauner Matsch spritzte aus der Straßen rinne auf und platschte quer über den Gehsteig.
Ein paar Sitzreihen weiter vorne stellte ein Junge seinen Kassettenrekorder an, worauf dröhnender Hip-Hop durch das ausgelassene Gewirr der Kinderstimmen pulste.
Loko im Augenblick wohl tat – Loko war mit seiner ganzen Familie zur Hochzeit eines Onkels eingeladen und gestern Abend in die Heimat abgeflogen. Neben ihm vermisste Debora bereits zum ersten Mal die Pferdestuten Fanny und Lucy, mit denen sie und ihre beste Freundin Suila immer ausritten. Und Raffi war völlig kribbelig – sie konnte es kaum mehr erwarten, in der Snowcamp-Herberge einzutreffen.

Verwirrt schreckte die Kleine aus einem Traum hoch, als Simon sie anstupste. Sie war auf der Fahrt eingeschlafen. Die belegten Brötchen hatten die Kids schon längst aufgegessen.
„Aufwachen!“ rief Debora unternehmungslustig. „Wir sind gleich da, Schwesterchen!“
Erstaunt rieb sich Raffi die Augen. Hier am Ferienort sah alles vollkommen anders aus als zu Hause. Die Straßen waren schneebedeckt, die schmucken Holzhäuser eingeschneit, und die Sonne strahlte so hell, dass es sie blendete.
Der Reisebus hielt vor einem großen Brunnen an. Sofort entstand ein Gedränge im Gang zwischen den Sitzreihen. Alle Kinder wollten als erste aussteigen. Als die Kaminski-Kids endlich an die frische Luft kamen, schlug ihnen ein eisiger Wind entgegen.
„Das ist aber kalt hier!“ fand Raffi.
„Na und? Wir haben ja genügend warme Kleider dabei!“ Debora hüpfte von einem Bein aufs andere. „Schaut mal, da!“ Begeistert zeigte sie auf einen Pferdeschlitten, der mit klingelnden Glöckchen um die Ecke bog. „Sind die nicht wunderschön?“
„Wer? Die beiden alten Damen in der Kutsche?“ fragte Simon.
„Nein, natürlich die Pferde, du Dödel!“
„Ach soooo!“ feixte Simon, worauf Debora ihm einen Stoß in die Rippen versetzte.
Während die Kids warteten, bis das Gepäck ausgeladen war, sahen sie sich das Haus an, in dem ihr Ferienlager untergebracht war. Es war ein hübsches Holzhaus mit drei Stockwerken. Auf dem Schrägdach lag eine dicke Schicht Schnee, und lange Eiszapfen hingen von der Dachrinne herab. Das hölzerne Schild über der Eingangstür trug die eingekerbte Inschrift HERBERGE ALPEN-TRAUM.
„Haben jetzt alle ihre Sachen?“ rief Petra über den Platz.
„Mein Snowboard fehlt noch“, meldete sich ein Mädchen.
Die Kinder drängten sich um den Reisebus, um nach dem Brett Ausschau zu halten. In dem ganzen Durcheinander bemerkte niemand, dass ein großer Junge die Straße herab gerannt kam und sich gehetzt umblickte. Als er die Menschenmenge vor dem Bus entdeckte, mischte er sich schnell unter die Kinder.
„Da ist das Board ja“, brummte der Fahrer und zog es aus einer Nische des Gepäckraums hervor.
„Ein Glück!“ atmete das Mädchen auf.
„Okay, los geht’s, Leute!“ Petra stapfte vor den Kids her zur Tür der Herberge. In dem Gewimmel aus Kindern, Snowboards und Reisetaschen achtete niemand auf den fremden Jungen, der einfach mit der Gruppe mitging.
Sie traten alle ins Haus und wurden von einer Frau mittleren Alters empfangen.
„Ich bin die Wirtin“, eröffnete sie. „Mein Name ist Kress. Tür zu!“
„Oh-oh, die ist aber mega freundlich“, flüsterte Raffi, während Petra die Tür gegen den Wind ins Schloss drückte. Hier in dem schummrigen Eingang war es schön warm, und die Kinder machten ihre Winterjacken auf. Der fremde Junge verdrückte sich in den dunkelsten Teil des Raums und zog seine blaue Wollmütze tief ins Gesicht.
Frau Kress zündete sich eine Zigarette an. „Im Haus ist noch eine andere Lagergruppe“, sagte sie und blies Rauch aus. „Die sind schon eine Woche da und haben schnell gemerkt, dass hier Ordnung herrscht. Dasselbe erwarte ich auch von euch. Nur damit das klar ist.“
„Äh, kein Problem“, antwortete Petra etwas baff.
Die Kinder waren ebenso platt und brauchten ein paar Sekunden, um den liebenswürdigen Empfang zu verdauen. Ein Mädchen raunte: „Die Herberge ist wohl eher ein Alptraum als ein Alpen-Traum!“
Frau Kress überging das aufkommende Gekicher. „Da drüben …“ Sie zeigte zu einer Tür. „Da ist der Trockenraum. Dort könnt ihr eure Jacken nach dem Skifahren aufhängen. Daneben ist der Skiraum – was ihr da reintut, muss ich euch wohl nicht erklären.“
„Bestimmt keine Ski“, murmelte ein Junge. „Wir fahren Boards, nicht Ski.“
Gereizt strich sich die Wirtin Aschenreste von ihrer Schürze. „Eure Stiefel zieht ihr hier unten aus. Keiner geht mir mit den nassen Latschen hoch! Dafür gibt’s die da.“ Sie wies auf eine lange Reihe klobige graue Pantoffeln und paffte eine miefende Qualmwolke in den Raum. „Noch Fragen?“
„Nö, alles klar, Frau Krass“, tuschelte ein Mädchen in der hintersten Reihe.
„Was war das?“
„Nichts, nichts“, wiegelte das Mädchen ab, doch alle Kinder lachten laut heraus.
Frau Kress wandte sich um und schlurfte zur Treppe. „Oben zeig ich euch den Rest.“
Petra verdrehte schmunzelnd die Augen.
„Oben gibt Frau Krass uns den Rest!“ flüsterte jemand, während die Kids der Wirtin folgten. Unterwegs erhaschten sie einen Blick in die Küche, wo bereits das Abendessen vorbereitet wurde.
„Mann, hab ich einen Mordshunger!“ Bei dem leckeren Frittenduft lief Debora gleich das Wasser im Mund zusammen. „Wenigstens der Food scheint in Ordnung zu sein!“
Der fremde Junge mit der blauen Mütze wartete, bis alle Kinder auf der Treppe waren. Dann folgte er der Gruppe unauffällig ins Obergeschoss.

2. Der unheimliche Fremde

Im ersten Stockwerk der Herberge führte Frau Kress die Kinder am Essraum entlang. Die Fenster gaben den Blick auf die verschneiten Berggipfel frei, die in der rötlichen Abendsonne wie Kristalle glitzerten. Gegenüber der Straße befand sich die Talstation des Sessellifts, der die letzten Snowboarder und Skifahrer des Tages über die schneebedeckte Piste in die Höhe gondelte.
„Ihr glaubt gar nicht, wie ich mich aufs Boarden freue!“ Raffi war vollkommen zappelig. „Ich wünschte, es wäre schon morgen!“
„Hier geht’s zur Knaben-Etage!“ rief Frau Kress, und die ganze Clique bewegte sich hinter ihr die nächste Stiege hoch.
Auf dem mittleren Treppenabsatz deutete Simon zur Wand. Dort hing ein ausgestopfter Hirschkopf mit Riesengeweih und starrte sie aus gläsernen Augen an. „Der Rest des Hirschs ragt bestimmt auf der anderen Seite aus der Hauswand raus“, schmunzelte er, was erneut Gelächter in der Lagergruppe auslöste.
Nur einer lachte nicht mit. Der fremde Junge mit der blauen Wollmütze blickte sich vorsichtig um und hielt sich sorgsam außer Sichtweite der Herbergswirtin. Im Knaben-Stockwerk musterte er die Zettel an den Türpfosten, auf denen stand, wer in welchem Zimmer schlafen würde. Unbemerkt verschwand er in einem der Zimmer.
„Um sieben gibt’s unten Abendbrot“, verkündete Frau Kress, während sie sich mit Petra auf den Weg zum Dachgeschoss machte, wo die Mädchen untergebracht waren.
„Bis nachher!“ Debora winkte Simon von der Treppe zu.
Er winkte zurück und suchte sein Zimmer. Am Ende der Diele fand er auf einem Zettel seinen Namen und die seiner beiden Freunde Beni und Thommy – zwei Brüder, die noch mit ihrer Familie unterwegs waren und erst in drei Tagen hier im Lager eintreffen würden. Super, dachte Simon, das war genau die Einteilung, die sie sich gewünscht hatten!
Umso erstaunter war er, als in seinem Zimmer trotzdem ein Junge war, den er überhaupt nicht kannte. Der Fremde trug eine blaue Mütze und sass auf einem der beiden Etagenbetten. Sein Hemd hing ihm unter der offenen Jacke und dem schlabbrigen Kapuzenpulli aus der Hose, und seine Schnürstiefel waren nicht zugebunden.
„Hallo“, sagte Simon überrascht.
„Tag.“
Etwas befangen stellte Simon seine Reisetasche ab. „Wie heißt du?“ fragte er und setzte sich auf die untere Liege des zweiten Etagenbetts.
„Mark“, murmelte der Junge. „Ich gehöre zur anderen Lagergruppe.“
„Dein Name steht aber nicht auf dem Zettel an der Tür.“
„Äh …“ Unruhig zupfte Mark an seiner ausgebeulten tarnfarbenen Army-Hose herum. „Die anderen haben mich aus dem Zimmer rausgeschmissen, weißt du.“
„Warum denn das?“
„Weil … die sagen … ich schnarche. Aber das stimmt gar nicht.“
Simon zippte seine Reisetasche auf, erhob sich und öffnete neben dem Bett ein schmales Schrankabteil. Als er dabei eine ruckartige Bewegung machte, zuckte Mark heftig zusammen und riss die Hände hoch, ließ sie aber gleich wieder sinken.
Seltsamer Typ, dachte Simon, während er seine Kleider in die Fächer zu legen begann. „Wo ist denn dein Gepäck?“
„Das … ist noch drüben. Im anderen Zimmer.“
„Und wieso holst du’s nicht?“
„Äh, nein“, wand sich Mark betreten. „Mein Gepäck ist noch gar nicht hier – meine Eltern bringen’s nach … ich hab’s vergessen.“
Simon hatte immer stärker das Gefühl, dass mit dem Jungen etwas nicht stimmte. Er drehte sich um und schaute Mark ins Gesicht. „Willst du nicht mal deine Mütze absetzen – hier drin ist es doch schön warm.“
„Ach, die …“ Mark wich Simons Blick aus und nahm die Wollmütze widerstrebend ab. Auf seiner Stirn kam ein breiter Kratzer zum Vorschein, und von seinem linken Wangenknochen zog sich ein blauer, blutunterlaufener Fleck bis zum Ohr, das dunkelrot angeschwollen war.
„Poa“, staunte Simon. „Sieht ja übel aus – wo hast du dir das denn geholt?“
„Bin mit dem Snowboard gestürzt. Ist aber nicht weiter schlimm.“
„Ich dachte, dein Gepäck wäre noch gar nicht hier. Wo ist denn dein Board?“
„Das … ähm …“
„Weißt du, was? Ich glaub dir kein Wort“, sagte Simon. „Wenn du hier schlafen willst, werd ich das jetzt meiner Lagerleiterin melden.“ Entschlossen trat er zur Tür.
Doch Mark blickte ihn hilfesuchend an. „Bitte nicht! Ich … ich hab ein Problem.“
„Was für ein Problem? Wenn ich nicht weiß, um was es geht, dann …“
„Lass mich bitte einfach hier schlafen. Okay? Morgen bin ich wieder weg – versprochen!“
Simon liess sich das durch den Kopf gehen. Der Junge schien ungefähr gleich alt wie er, war etwas grösser, aber schmal und hager. Mit dem, dachte Simon, könnte ich es alleweil aufnehmen, wenn es nötig wäre.
„Ich werd zwar nicht schlau draus“, sagte er zögernd. „Aber meinetwegen. Du kannst hierbleiben – diese eine Nacht lang.“
„Danke“, atmete Mark auf. „Du bist in Ordnung, Mann.“
Draußen schallte die Stimme von Frau Kress durch die Gänge: „Abendbroooot!“
„Endlich“, seufzte Simon, der schon ein richtiges Loch im Bauch hatte. „Kommst du, Mark?“
„M-m …“ Schwach schüttelte der Junge den Kopf. „Ich hab keinen Hunger. Mir ist übel.“
„Na dann …“ Mit gemischten Gefühlen verließ Simon das Zimmer.
Sofort schnellte Mark hoch und drückte die Tür hastig ins Schloss.

Im Essraum saßen die Kaminski-Kids am langen Tisch der PLANET7-Gruppe und beobachteten die Kinder des anderen Lagers, die sich offenkundig schon gut eingelebt hatten. Der quirlige Lärm ihres Geplauders und Gelächters erfüllte den ganzen Saal.
Frau Kress irrte umher und überprüfte, ob die Krüge an den Tisch-Enden alle mit heißem Tee gefüllt waren.
Ein Junge von gegenüber rief grinsend: „Frau Kress, voll im Stress!“, doch die Herbergswirtin fand das nicht besonders lustig.
Heißhungrig machten sich die Kids über das Essen her. Mit dem ersten Bissen im Mund sagte Simon: „In meinem Zimmer ist ein seltsamer Typ, den hättet ihr sehen sollen!“ Der Reihe nach erzählte er seinen Schwestern alles, was Mark gesagt hatte, und schloss mit der Bemerkung: „Irgendwie sieht der aus, als hätte er eine Prügelei gehabt, mit all den Schrammen und blauen Flecken im Gesicht!“
„Dem würd ich nicht trauen – der hat ja dauernd geschwindelt“, fand Raffi.
Debora nickte. „Und wenn der in eine Prügelei verwickelt war … also, ich weiß nicht! Warum will der unbedingt in deinem Zimmer übernachten? Da ist doch was faul an der Sache!“
„Glaub ich auch.“ Simon schob sich eine knusprig braune Kante seines Schnitzels in den Mund. „Aber ich hab keine Ahnung, was.“
„Der gehört vielleicht gar nicht zur anderen Lagergruppe“, argwöhnte Raffi.
„Und somit überhaupt nicht in dieses Haus!“ Debora spießte ein paar Pommes auf. „Deshalb wollte er doch nicht zum Essen kommen – da wäre nämlich aufgefallen, dass kein Gedeck für ihn aufgetischt ist und dass er überzählig ist!“
„Da könnte wirklich was dran sein“, sagte Simon. „Das würde auch erklären, wieso er auf keinen Fall mit der Lagerleiterin sprechen wollte. Hätte er nichts zu verbergen, wär das doch gar kein Problem für ihn gewesen.“
„Vielleicht versteckt er sich vor jemandem“, überlegte Raffi.
„Oder aber …“ In Debora stieg ein beklemmender Verdacht auf. „Wenn der nun hier in der Herberge was im Schilde führt?“
„Also, mir wird der Junge immer unheimlicher!“ fröstelte Raffi.
„Mir auch.“ Debora blickte Simon besorgt an. „Du darfst ihn auf keinen Fall bei dir schlafen lassen! Du musst ihn rauswerfen!“
„Geht nicht – ich hab ihm versprochen, dass er in meinem Zimmer übernachten darf.“
„Kannst du ihm das nicht wieder ausreden?“
„Da müsste ich mein Wort brechen. Und wir wissen ja nicht mit Sicherheit, was eigentlich mit ihm los ist.“
Raffi lief eine Gänsehaut über den Rücken. „Dann pass aber gut auf dich auf in der Nacht, Simon!“
„Und schau zu deinen Sachen – Handy, Geldbörse und so!“ warnte Debora. „Wenn du uns brauchst, schickst du mir ein SMS! In Ordnung?“
Simon nickte. „Einverstanden.“ Inzwischen war’s ihm auch ziemlich mulmig bei der Sache. Andererseits, überlegte er, hatte Mark ihn vorhin im Zimmer echt hilfesuchend angeschaut – mit einem Anflug von richtiger Verzweiflung im Blick … Wäre es tatsächlich möglich, dass der das nur vorgespielt hatte? Aber vielleicht war ja genau das die Masche von dem Typen. Man konnte ja wirklich nie wissen.
„Da bin ich aber mal gespannt, was diese Nacht passieren wird“, murmelte er vor sich hin. Eins war ihm jedenfalls klar: Er dürfte sich unter keinen Umständen im Schlaf überraschen lassen …

3. Zwei Augen im Dunkeln

In der Nacht drehte sich Simon ruhelos von einer Seite auf die andere. Das Handy und die Geldbörse hatte er sicherheitshalber unter seinem Bett verstaut. Ständig tastete er nach den Sachen, doch alles war noch da, und auch seine Kleider hingen nach wie vor unberührt am Haken.
Im gegenüberliegenden Etagenbett schnarchte Mark tatsächlich nicht, genau wie er behauptet hatte. Im Gegenteil: Simon war nie ganz sicher, ob der Junge überhaupt schlief.
Vom anstrengenden Starren in die Dunkelheit wurde Simon noch viel schläfriger, als er es ohnehin schon war. Seine Augen brannten, und irgendwann kam er nicht mehr dagegen an. Die Erschöpfung übermannte ihn, und ohne es zu merken, fiel er in einen dämmrigen Schlaf …
Er träumte von der Herbergswirtin Frau Kress. Sie hatte einen weit aufgerissenen Mund, der mit gelbem Lippenstift bemalt war. Und sie schrie laut: „Tür zu!“ Dann schnaubte sie eine riesige Qualmwolke aus. Im Traum erfüllte der wabernde Rauch den ganzen Raum und begann sogar die hölzernen Hauswände durchzubiegen …
Als ein Knacken an Simons Ohr drang, war er sofort hellwach. Reglos blieb er liegen. Mit rasendem Herzpochen beobachtete er aus dem Augenwinkel, wie Mark aus dem Bett stieg und zur Tür tappte.
Also doch, dachte Simon. Jetzt würde sich ja gleich zeigen, was der Typ vorhatte!
Sobald Mark aus dem Zimmer war, schickte Simon das SMS an seine Schwestern, das er am Abend bereits getippt hatte und nun bloß noch abzusenden brauchte.
Vor der Tür musste er nicht lange auf die Mädchen warten – Debora und Raffi hatten damit gerechnet, von einer Sekunde auf die andere aufstehen zu müssen und waren deswegen in Windeseile in der Knaben-Etage.
Aufgeregt schlichen die beiden hinter Simon her zum Ende des Flurs. Die Diele war nur durch ein schummriges blaues Licht erleuchtet – der Rest des Hauses war stockfinster.
Auf der Treppe nach unten blieb Raffi plötzlich wie angewurzelt stehen und deutete mit angehaltenem Atem zur Wand. „Da! Da ist er“, flüsterte sie. „Er starrt mich an!“
In der Dunkelheit funkelten zwei Augen im bläulichen Lichtschein, der vom oberen Flur herab fiel.
Simon schluckte leer. Er gab sich einen Ruck und trat ganz, ganz langsam auf die reglosen Augen zu.
Nach ein paar Schritten blieb er stehen. Erleichtert blies er Luft aus. „Mann, Raffi! Das ist doch nur der Hirschkopf!“
„Schock mich nochmal, du Dödel!“ stöhnte Debora auf.
„Kann ich doch nichts dafür!“ fauchte die Kleine, die noch immer butterweiche Knie hatte.
Leise tappten die drei Kids weiter hinab und huschten am Essraum entlang. Da hörten sie ein Geräusch – unten im Erdgeschoss wurde eine Tür geöffnet.
„Er ist im Trockenraum!“ vermutete Simon. „Da drin sind doch alle Jacken, Schuhe und Skibrillen!“
„Also das hat der Typ im Sinn!“ folgerte Debora. „Der will uns alle beklauen!“
Vorsichtig schlichen die Kids die Stufen zum Erdgeschoss hinab.
Unten tastete Simon im Dunkeln nach einem Lichtschalter. „Wir machen das Licht an, okay?“
Zitternd presste Raffi sich an ihren Bruder. „Bist du ganz sicher?“
Doch Debora war mit dem Plan einverstanden. „In Ordnung! Eins … zwei … zweieinhalb … uuuund … drei!“
Die Beleuchtung flammte auf. Raffi rieb sich geblendet die Augen.
Zur Überraschung der Kids stand Mark gar nicht im Trockenraum. Sondern nebenan in der Küche.
Schreckensbleich stierte er sie an.