Unter Verdacht

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Beschreibung

Die Kaminski-Kids Band 4

Brunnen Verlag, Basel
190 Seiten, Taschenbuch, mit Illustrationen von Lisa Gangwisch

Als Taschenbuch erhältlich. Als gebundene Ausgabe vergriffen.

Die Kaminski-Kids sind gefordert: Im Wohnblock ihrer Freunde wird eingebrochen. Als Simon und Raffi die Sache unter die Lupe nehmen, geraten sie plötzlich selber unter Verdacht der Polizei. Noch brenzliger wird es, als Debora in den Einfluss einer Bande gerät. Denn die „Banfits“ planen eine gefährliche Tat, die Debora unmöglich mit ihrem Gewissen vereinbaren kann. Gelingt es den Kids, den Plan zu verhindern und sich vom verhängnisvollen Verdacht zu befreien?

Kostenloses Unterrichtsmaterial zu diesem Buch gibt es hier

Empfohlen durch das Schweizer Jugendwerk Pro Juventute.

„Sogar Lesemuffel werden durch die Kaminski-Kids zu Leseratten!“
Schweizer Illustrierte

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Leseprobe aus „Die Kaminski-Kids: Unter Verdacht“

1. Die Entdeckung

„Was? Bei euch ist eingebrochen worden?“
Betroffen umklammerte Simon den Telefonhörer.
„Wo?“ fragte Raffi, die eben in den Hausflur trat.
Simon achtete nicht auf sie und sagte in die Sprechmuschel: „Langsam, Loko! Am besten kommst du her und erzählst uns alles der Reihe nach! Okay, bis gleich.“
„Und?“ drängelte Raffi, als ihr Bruder auflegte.
„In der Wohnblocksiedlung ist was passiert – ich bin nicht ganz schlau draus geworden. Loko ist völlig durcheinander.“ Da musste eine ziemlich üble Sache im Busch sein, vermutete Simon, wenn sein bester Freund derart ausflippte. Ganz in diese Gedanken versunken, suchte er nach seinen Turnschuhen. „Wo sind denn …?“
„Guck mal, da!“ Entgeistert zeigte Raffi zur Küche.
Als Simon aufblickte, bekam er etwas äußerst Seltsames mit: Einer seiner Turnschuhe verschwand wie von selbst um den Türpfosten herum.
Die Kids sprangen hin und sahen eben noch, wie der Schuh unter den Küchentisch gezupft wurde – von einem wuscheligen Hündchen! Ein zweites Hundebündel trollte sich dazu und begann mit dem ersten zu balgen, wobei es tollpatschig auf den Rücken purzelte. Vor ein paar Wochen hatte Zwockel, die Collie-Hündin der Kaminski-Kids, vier Babys zur Welt gebracht, die jetzt alles abschleppten, was nicht niet- und nagelfest war. Bald nach der Geburt durften die Kinder den Welpen Namen geben, und auch Opa steuerte einen Vorschlag bei. So hießen die Hündchen nun Ronnie, Tschip, Sindy und Herr Müller – was Großvater für eine gute Idee hielt, denn das dunkel gefleckte Junge hätte, wie er fand, einen besonders klangvollen Namen verdient.
„Na, du bist mir ja einer, Herr Müller!“ schmunzelte Simon, während Raffi dem Welpen den Schuh wegzog. Doch kampflos wollte Herr Müller nicht aufgeben. Er klammerte sich mit seinen Zähnchen an der Schuhspitze fest und ließ erst hoch in der Luft los. Mit einem Plumps landete das Hündchen auf dem Fußboden und sauste davon.
„Das muss ich gleich Debora erzählen!“ Ausgelassen hüpfte die Neunjährige zum Telefon und wählte die Nummer des Krankenhauses. Denn Debora lag nach einem Reitunfall mit gebrochenem Knöchel in der Klinik. Ausgerechnet jetzt, wo die Welpen so süße Dinge taten, konnte sie nicht dabei sein.
Nachdem Raffi ihrer drei Jahre älteren Schwester alles geschildert hatte, stockte sie: „Ich weiß nicht … Mal schauen, was Simon dazu sagt. Ja – also, mach’s gut!“
Sie hopste zur Küche zurück, wo ihr Bruder durchs Fenster auf den Hof spähte, ob Loko schon kam. Doch dazu war es noch zu früh – selbst wenn sein Freund sich beeilte, wäre er erst in fünf Minuten hier. Beunruhigt grübelte Simon darüber nach, was es mit diesem rätselhaften Einbruch wohl auf sich hatte.
„Du-u?“ riss Raffi ihn aus seinen Gedanken. „Debora möchte, dass wir die Hündchen zu ihr in die Klinik bringen! Sie will sie streicheln!“
„Das geht doch nicht. Tiere sind im Krankenhaus total verboten.“
„Aber Debora möcht‘ es mega gern! Könnten wir die Jungen denn nicht heimlich in ihr Zimmer schmuggeln?“
„Viel zu riskant. Wenn wir erwischt werden, dann …“
„Na, hör mal! Wir sind doch die Kaminski-Kids! Wir drei zusammen haben schon ganz andere Dinge geschafft – ich, du und Debora!“
„Schon, aber …“
„Und wenn wir die Welpen im Rucksack verstecken?“ zirpte sie mit ihrem liebsten Stimmchen. Das schaltete sie immer dann ein, wenn sie etwas unbedingt wollte. Meistens wirkte der Trick – bei Vater fast immer, oft auch bei Opa und Mutter, und manchmal sogar bei ihren beiden Geschwistern.
„Hmm …“ Allmählich schmolz Simons Widerstand wie Vanille-Schokolade-Eis in der Mikrowelle. „Würde vielleicht klappen. Aber wir könnten höchstens zwei mitnehmen, damit’s nicht auffällt.“
„Genau!“ Sie war schon ganz aufgedreht. „Lass uns gleich abzischen! Heute ist ja keine Schule!“
Und nicht nur heute – vier freie Tage warteten auf die Kids, was sie einem Feiertag mit verlängertem Wochenende zu verdanken hatten.
Doch Simon schüttelte den Kopf. „Zuerst will ich wissen, was bei Loko los ist.“
„Stimmt, den hab ich ganz vergessen! Aber danach ziehen wir mit den Hündchen los, in Ordnung?“ Treuherzig blickte sie ihn an.
„Also gut!“
„Cool! Klasse, Mann!“
Keine Sekunde nach ihrem Gejubel drang ein Räuspern aus dem Wohnzimmer in die Küche. „Kommt ihr mal eben rüber, Kinder?“
„Oh-oh“, machte die Kleine. Ihr war sofort klar, dass Opa alles mitgekriegt hatte – er war zwar fast blind, dafür hörte er umso besser.
Mit gemischten Gefühlen schlenderten die Kids in die niedrige, gemütliche Stube hinüber.
„Wisst ihr, weshalb man keine Tiere zu den Kranken mitbringen darf?“ fragte Großvater, als sie eintraten, und antwortete gleich selbst: „Wegen der Ansteckungsgefahr. Die Hündchen könnten irgendwelche Erreger auf die Patienten übertragen.“
Enttäuscht ließ Raffi die Schultern hängen. „Ja Pingu! Debora hätte sich so drüber gefreut!“
„Das glaub ich dir gern. Aber mit so was ist nicht zu spaßen.“ Der alte Mann im Lehnsessel blickte ernst aus seinen trüben Augen. „Es gibt nur eine einzige Ausnahme …“
„Ja?“ Hellhörig merkten sie auf.
„Wenn die Patienten leichte Fälle sind – dann wäre es ungefährlich.“
„Leichte Fälle?“ stutzte Simon.
„Nun ja, lass mich ein Beispiel dafür suchen. Ein leichter Fall wäre etwa …“ Nachdenklich fuhr er sich mit dem Daumennagel durch den dichten grauen Schnurrbart. „Tja – zum Beispiel … ein gebrochener Knöchel …“
„Dann geht’s ja doch!“ rief Raffi.
Abwehrend hob Opa die Hand. „Nein, nein, nein, tut mir leid. Euer Plan kann unmöglich gut ausgehen.“
„Aber warum denn nicht?“
„Ist doch ganz klar. Jemand müsste die Krankenschwester ablenken – sonst merkt die’s sofort, und dann ist das Spiel aus.“
„Richtig“, gab Simon zu. „Daran haben wir gar nicht gedacht.“
„Eben“, brummte Großvater.
„Wie könnten wir die Schwester denn ablenken?“ überlegte die Kleine.
Opa holte umständlich sein Taschentuch hervor. „Dafür bräuchtet ihr jemand, der mit so was umgehen könnte.“
„Ja, aber wen bloß?“
„Tjaaaa … Ich wüsste da vielleicht wen.“ Er schnäuzte sich kräftig. „Es müsste eine ältere Person sein. Jemand mit Erfahrung. Das könnte nicht schaden.“ Während er das Taschentuch wieder einsteckte, breitete sich auf seinem faltigen Gesicht langsam ein Schmunzeln aus.
Da fiel bei Simon der Groschen. „Etwa du?“ fragte der Vierzehnjährige überrascht. „Du würdest mitmachen, Opa?“
„Nun, das kommt drauf an. Sorgt ihr dann dafür, dass die Hündchen ganz bestimmt nicht mit schweren Fällen in Kontakt kommen? Das müsstet ihr mir versprechen.“
„Versprochen!“
„Na gut, einverstanden! Aber nicht gleich jetzt – zuerst will ich noch die Rundfunk-Nachrichten hören. Danach können wir meinetwegen aufbrechen.“
„Super!“ Die Kleine machte einen Luftsprung. „Du bist der beste Opa der Welt!“
Simon und Raffi rannten durch die offen stehende Tür auf den sonnigen Vorplatz hinaus, um zwei der Hündchen einzufangen.
In diesem Augenblick raste Loko mit dem Fahrrad auf den Kaminski-Hof. „Das glaubst du nicht! Das glaubst du nicht!“ keuchte er noch ganz außer Atem.
„Was ist denn los?“ fragte Simon seinen Klassenkameraden.
„Ihr müsst uns helfen! Alle denken, dass wir es waren! Sie schauen uns an wie Schwerverbrecher, dabei …“
„Hey, ich schnall überhaupt nichts! Erzähl doch eins nach dem andern!“
Loko stieg ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Blick streifte von Raffi hinüber zur Blumenhandlung, die ans Wohnhaus angebaut war. Dort sah man durchs Fenster Herrn und Frau Kaminski arbeiten: Vater im Büro, Mutter im Verkaufsraum.
„Also, das war so.“ Loko bemühte sich, seine Stimme unter Kontrolle zu bringen. „Gestern Nacht ist in unserem Wohnblock eingebrochen worden, in den Keller des Hausmeisters. Teure Schaumweinflaschen wurden geklaut, drei oder vier Kisten, und viele Sachen sind zusammengeschlagen worden!“
„Boaah!“ machte Raffi. „Voll zusammengeschlagen?“
Simon runzelte die Stirn, so dass sich zwischen seinen Augenbrauen eine steile Falte bildete. „Aber was hat die Sache denn mit euch zu tun?“
„Das ist es ja gerade!“ rief Loko. „Wir haben gestern Nachmittag einen Riesenstreit mit dem Hausmeister gehabt! Und jetzt erzählt der überall rum, wir hätten seinen Keller verwüstet, um uns zu rächen.“
„Verstehe“, murmelte Simon, nun sichtlich beunruhigt.
Als sich Hufgetrappel näherte, wandten alle die Köpfe. Vom Feldpfad her kam Lokos Schwester Suila mit ihrem Lipizzaner-Schimmel angetrabt. Sie hatte Deboras schwarze Friesenstute Fanny im Schlepptau. Denn seit Debora verletzt war, kümmerte sich Suila auch um das Pferd ihrer Freundin, versorgte es im Stall, säuberte die Box und nahm es mit zum Ausreiten.
„Hoooo!“ Vor den Kindern brachte sie die Stuten zum Stehen und sprang aus dem Sattel, wobei ihr schönes langes Haar im Wind flatterte. „Habt ihr schon von unserm Pech gehört?“
Raffi nickte. „Ganz schön vertrackt, was?“
„Eben.“ Suila sah zu Boden. „Und ich bin schuld dran.“
„Bist du nicht!“ verteidigte ihr Bruder sie.
„Doch, weil ich mit den schmutzigen Reitstiefeln im Haus die Treppe hochgegangen bin. Damit hat alles angefangen. Dabei wollte ich danach gleich sauber machen.“
„Siehst du!“ brauste Loko auf. „Ich bin hundertpro sicher, der Hausmeister hat im Treppenhaus gelauert, ehe du’s wegwischen konntest.“ Den Kids erklärte er: „Der hat auf die paar Erdkrümel gestarrt, als würde das ganze Haus im Matsch versinken! Aber dass der meine Schwester so anschreit, das kann ich doch nicht zulassen! Da hab ich mich halt mit ihm angelegt.“ Etwas leiser fügte er hinzu: „Vielleicht ein bisschen zu krass … Na ja, einiges hätte ich wohl besser nicht gesagt. Aber trotzdem!“
Simon kratzte sich am Kopf. „Sieht nicht grade gut aus, das muss ich schon zugeben.“
„Natürlich fällt der Verdacht auf uns!“ Suila hielt Fanny am Halfter, die nervös zur Seite tänzelte. Die Friesenstute scheute wegen Zwockel, der bellend eine Katze von der Hundehütte wegscheuchte, um seine Welpen zu beschützen. Der Lipizzaner-Schimmel dagegen blieb seelenruhig stehen, denn Lucy war ein sehr ausgeglichenes, besonnenes Pferd. „Der Hausmeister droht mit Polizei!“ fuhr Suila fort. „Die Sache hätte einschneidende Folgen für uns, hat er geschworen. Und die ganze Nachbarschaft starrt uns blöd an.“
„Aber wir waren es nicht!“ Loko blickte die Kids eindringlich an. „Helft ihr uns?“
„Logisch! Wofür hat man sonst Freunde?“
„Ihr habt uns auch schon aus brenzligen Lagen gerettet!“ doppelte Raffi nach.
Aufmunternd legte Simon den Arm um Lokos Schultern. „Wir denken uns einen Plan aus, wie der Verdacht von euch abgewendet werden könnte.“
„Aber wie soll das bloß gehen?“
„Da wird uns schon was einfallen.“
„Ah, Loko und Suila!“ rief Opa von der Vortreppe her. „Kommt ihr etwa auch mit in die Klinik?“
„Ach du Schande!“ Raffi schlug sich an die Stirn. „Das hätten wir ja beinahe vergessen!“
„Nein, ich muss Reklame-Sendungen verteilen“, antwortete Suila und tätschelte die prall gefüllte Tasche auf Lucys Rücken.
„Und ich helfe Suila heute dabei“, erklärte Loko.
Den Strohhut gegen die warme Spätfrühlingssonne aufgesetzt, tastete Opa sich mit der Hand am Geländer vorsichtig die Stufen herab. „Ganz der Kavalier, Loko“, schmunzelte er. „Genau wie ich dich kenne.“
Das, schoss es Loko durch den Kopf, dachten nun die meisten Leute gerade nicht über ihn, ganz im Gegenteil. Bedrückt stieg er aufs Rad und rollte zu den Pferden, wo Suila bereits aufgesessen war.
„Wir besuchen euch später!“ Simon schaute den beiden hinterher. „Um zu besprechen, wie ihr am besten aus der Klemme kommt!“
„In Ordnung!“ entgegnete Loko, und Suila winkte, während sie vom Hof weg ritt.
„Jetzt fangen wir zwei Hündchen ein!“ Raffi hüpfte aufgeregt davon. „Und dann geht’s los zu Debora! Auf zum Krankenhaus!“

2. Yo!

Debora schob die Bettdecke von ihren Beinen weg, denn im Krankenzimmer herrschte stickige Wärme. Unter ihrem Gips am linken Fuß juckte die Haut, und es machte sie ganz verrückt, dass sie sich dort nicht kratzen konnte. Gedankenverloren hob sie ihr Pferde-Abenteuerbuch vom Nachttisch, um sich Luft ins Gesicht zu fächeln. Ob Raffi und Simon die Hundebabys wohl zu ihr bringen würden? Sie hoffte es fest und schaute auf die Uhr. Doch der Minutenzeiger wanderte so langsam vorwärts, als wäre er mit Schneckenschleim verklebt. Nach acht Tagen in der Klinik vermisste Debora ihre Familie schon ein bisschen, besonders natürlich ihre Geschwister. Am meisten aber fehlten ihr die Stute Fanny, ihre Freundin Suila und die Hündchen. Als die noch ganz klein waren, durfte man sie nicht streicheln, und jetzt … Sie hätte viel dafür gegeben, die ulkigen Welpen zu sehen.
Zum Glück war in ihrem Zweierzimmer seit gestern Abend noch ein Mädchen, das sie vom Schulhof her kannte. Franziska hatte violett gefärbtes Haar und Piercing-Ringe an allen möglichen Orten – im rechten Nasenflügel, an der linken Augenbraue und in der Unterlippe. Aus ihrem mitgebrachten Radio schepperte das Hip-Hop-Programm eines Jugendsenders. Sie wischte sich eine Strähne ihrer zotteligen Frisur aus der Stirn und seufzte laut auf. „Gnadenlose Hitze hier drin, was? Wie auf’m Mond!“
Debora glaubte zwar nicht wirklich, dass es auf dem Mond heiß ist, aber sie nickte trotzdem.
Neugierig deutete Franziska auf ihren Gips. „Wie hast du dir denn das Teil da zugelegt?“
„Sieht schlimmer aus, als es ist. Mein Pferd hat vor einem mega Vogel gescheut, der plötzlich aufflog.“
„Und dann?“
„Na ja, die Stute drückte im Zurückweichen meinen Fuß gegen ein Eisentor, und der Knöchel ist gebrochen.“
„Uuuuu …“ Übertrieben verzog das Mädchen den Mund.
„Musste operiert werden – aber jetzt tut’s fast nicht mehr weh. Und du? Weswegen bist du hier?“
Franziska schob sich einen Kaugummi ein. Sie legte den Kopf ins Kissen, blickte zur Zimmerdecke hoch und kaute geräuschvoll. „Eigentlich wegen nichts.“
„Wegen nichts ist man doch nicht in der Klinik.“
„Pfff! Die sagen, ich hätt vielleicht ’ne Gehirnerschütterung – bloß weil ich mal kurz weggetreten bin -, und das müssten sie abklären. Keine große Sache eben. Wenn’s nach mir ginge, würd ich jetzt gleich wieder da rausmarschieren.“ Sie zeigte zur Tür, die genau in diesem Moment geöffnet wurde.
Herein kam ein Junge, den Debora ebenfalls von der Schule kannte. Er hatte dunkles Stachelhaar mit Gel drin und sah unheimlich gut aus. Aber sie wusste nicht viel mehr über ihn, als dass er Mirko hieß. In seiner ultraweiten Hose gondelte er direkt zu Franziska hinüber.
„Yo!“ sagte er und gab ihr eine Musikkassette. „Damit du nicht auf Entzug kommst!“
„Na, endlich!“ Sie strahlte. „Ich hab schon gedacht, dieser öde Tran hier bringt mich noch ins Grab.“ Sie schaltete den Jugendsender ab, legte das Band ins Kassettenfach und drehte die Lautstärke voll auf. Aus den Boxen dröhnte ein Hip-Hop-Song, der in Deboras Ohren auch nicht groß anders klang als das Rundfunkprogramm vorhin.
Mirko streckte Franziska die flache Hand hin. „Gib mir Fünf!“
Lässig klatschte sie ihre darauf. „Und? Ist alles glatt gelaufen?“
Er nickte und lächelte vielsagend: „Die anderen lassen dich grüßen – du weißt schon …“
„Das ist aber viel zu laut hier drin!“ mahnte die Krankenschwester, die eben eintrat und gemäß ihrem Namensschild am Kittel „Schwester Hildegard“ hieß. Sie eilte zu Franziska und leuchtete ihr mit einer schmalen Stablampe ins Auge.
„Nicht schon wieder!“ stöhnte das Mädchen. „Die ganze Zeit blendet die mich!“
„Wieso tun Sie das, ey?“ beschwerte sich Mirko gereizt.
„Um die Pupillen zu prüfen“, erklärte die Schwester ruhig. „Wenn sie sich im Licht verkleinern, zeigt das, dass die Hirn-Reflexe einwandfrei funktionieren.“
„Aber wenn’s doch blendet!“ beharrte Mirko.
„Es muss leider sein.“ Hildegard beugte sich vor und stellte den Kassettenrekorder ab. „Man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr.“
„Dann müssen Sie eben lauter sprechen“, motzte Franziska.
„Oder sich konkret Watte in die Ohren stopfen, Mann!“ brummte Mirko, worauf das Mädchen schallend loslachte.
Nebenan musste sich Debora das Grinsen verkneifen. Sie fand den Jungen zwar ganz schön frech, aber irgendwie gefiel er ihr dennoch.
Die Krankenschwester bedachte Mirko mit einem schneidenden Blick. „In zehn Minuten bringe ich das Mittagessen, dann will ich dich hier nicht mehr sehen.“
Als sie zur Tür ging, streckte Franziska ihr die Zunge heraus und ließ dabei einen glänzenden Stecker sehen – ein Piercing in der Zungenspitze, das Debora bisher noch gar nicht bemerkt hatte.

„Bla, bla, bla“, nölte Mirko, als die Schwester weg war. Gelassen schaltete er den Rekorder wieder ein. „Olle Tussi!“
„Voll cool!“ lobte Franziska. „Der hast du’s richtig gegeben!“
„Seid ihr immer so drauf wie eben?“ wunderte sich Debora.
Franziska machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das ist noch gar nichts. Der Typ da hat noch ganz andere Sachen drauf, stimmt’s? Erzähl’s ihr!“
„Ach, komm!“ wiegelte Mirko ab.
„Doch, mach schon!“
„Wer ist denn die überhaupt? Ich red höchstens mit ihr, weil sie so hübsch ist.“ Der Junge blickte Debora voll ins Gesicht. „Kenn ich dich nicht von der Schule?“
Sie zuckte innerlich zusammen und nickte.
„Yo, dann weißt du ja schon einiges!“
„Ja, aber dass du im Laden nie bezahlst, das weiß sie noch nicht!“ Franziska stellte die Musik leiser, um nicht so schreien zu müssen. Dabei zwinkerte sie Debora zu. „Der lässt immer alles mitgehen!“ Dann sah sie Mirko auffordernd an. „Erzähl ihr doch mal von deinen Spray-Aktionen!“
„Die?“ Bei diesem Thema kam er ins Schwärmen. „Am besten gefallen mir meine großen Graffiti auf den Bahnwaggons. Die fahren überall hin, und dann kann man im ganzen Land meine Pieces sehen.“
„Bist du denn dabei noch nie erwischt worden?“ staunte Debora.
„Das ist ja die Kunst beim Sprayen.“ Er grinste stolz. „Aber nicht nur da – wenn ich im Bus oder im Zug schwarzfahre und die Sitze aufschlitze oder die Scheiben zerkratze, wär’s auch nicht grade cool, erwischt zu werden.“
„Voll uncool“, nickte Franziska.
„Mal haben sie mich fast geschnappt“, sagte Mirko lässig. „Ich konnte die Bullen grade noch abhängen.“
Debora wurde es allmählich unbehaglich, doch sie stellte sich vor, in Wirklichkeit wäre Mirko bestimmt viel netter – die Geschichten hier passten überhaupt nicht zu ihm. Natürlich war er ihr schon oft im Schulhof aufgefallen. Alle Schüler behandelten ihn mit Respekt. Nicht mal die Lehrer trauten sich etwas zu sagen, wenn er in der Parkanlage nebenan rauchte. Er hatte immer eine passende Antwort parat. Und er war stark – das zeigten schon die geschmeidigen Muskeln, die sein ärmelloses T-Shirt sehen ließ.
„Wirklich hübsch, echt“, murmelte Mirko. „Wie heißt du denn eigentlich?“
„Debora“, antwortete sie verlegen, da sie sich in ihren Gedanken über ihn ertappt fühlte.
„Voll fetter Name“, fand Mirko.
„Poa!“ machte Franziska und ließ eine Kaugummiblase platzen. „So’n Gesülze hör ich jetzt aber zum ersten Mal von dir, Mann!“

3. Heimliche Fracht

Am Eingang der Klinik hielt Raffi die gläserne Tür für Opa und Simon auf. Als die drei die Vorhalle durchquerten, wurde Simon das Gefühl nicht los, alle Leute starrten auf seinen Rucksack mit den Hündchen drin. Deshalb hatte er es ziemlich eilig, zu den Aufzügen zu kommen.
„In welchem Stockwerk liegt Debora gleich?“ nuschelte Opa. „Ich hab’s vergessen.“
Raffi drückte auf den Knopf. „Im dritten!“ wusste sie noch von den vielen Besuchen bei ihrer Schwester.
Deutlich spürte Simon am Rücken die Welpen herumturnen, doch der Fahrstuhl wollte und wollte nicht kommen. Dem Jungen schien es, die Zeit krieche vorbei wie eine Ameise mit gebrochenen Beinen. Er wurde immer kribbeliger. „Stellt euch dicht hinter mich, damit’s weniger auffällt“, raunte er.
Die Kleine konnte ein Kichern nicht unterdrücken, während sie mit Großvater die Sicht auf den Rucksack abschirmte.
Als die Fahrstuhltür endlich aufging, traten die Kaminskis rasch ein.
Simon drückte Taste Nummer drei und atmete auf. „Poa, ich dachte schon, das wird nicht mehr! Der langsamste Aufzug der Welt!“
Doch gerade bevor die Tür wieder zuglitt, hastete ein Arzt zu ihnen herein. Er trug einen weißen Kittel und hatte ein Stethoskop umgehängt.
„Oh-oh“, machte Raffi leise, als sie losfuhren. Bange beobachtete sie, wie die Hundepfötchen im Rucksack den Stoff ausbeulten und an ständig wechselnden Stellen herausdrückten. Die Krällchen verursachten dabei ein schrappendes Geräusch, weshalb der Arzt plötzlich hinsah. Um ihn abzulenken, kratzte Raffi sich schnell am Kopf und lächelte den Doktor überfreundlich an.
Und Opa sagte, ohne zu zögern: „Schöner Tag, nicht?“, während Simon daneben am liebsten im Boden versunken wäre.
„Nicht wirklich“, antwortete der Arzt. „Wir haben ziemlichen Stress.“ Als sie in der dritten Etage anlangten, stürmte er in den Korridor hinaus.
Erleichtert folgten ihm die Kaminskis. „Das war knapp“, flüsterte Opa.
Die Absätze des Arztes quietschten auf dem glänzenden Linoleum. Er rannte ins Stationszimmer und rief: „Schwester Andrea, schnell! Kommen Sie in Abteilung D!“
„Wir sind aber nur zu zweit – Hildegard und ich müssen das Mittagessen ausgeben.“
„Das kann warten! Schnell! Ein Notfall!“
„Ich mach das schon alleine hier“, meinte Schwester Hildegard beruhigend.
Schon kam der Doktor mit der Krankenschwester im Schlepptau zurück, und die beiden hasteten in den Aufzug.
Kaum war die Tür zu, brummte Großvater: „So! Und nun aber los zu Debora!“
Während ihre Sohlen den Korridor entlangquietschten, versuchten die Hündchen dauernd aus dem Rucksack zu krabbeln. Zu allem Überfluss begannen sie nun auch noch zu fiepsen – sie wollten bellen, aber ihre Hals-Organe waren glücklicherweise noch zu schwach dazu.
Vor Deboras Zimmer hielt Opa an. „Wo ist denn hier die nächste Toilette?“
Raffi verzog den Mund. „Musst du denn ausgerechnet jetzt?“
„Nö. Aber gewisse Dinge im Voraus zu wissen ist immer nützlich“, meinte er vieldeutig.
„Gleich vor deiner Nase!“ Die Kleine zeigte auf den Eingang gegenüber, dessen Aufschrift WC der alte Mann aufgrund seiner beinahe vollständigen Blindheit natürlich nicht hatte sehen können.
„In Ordnung. Schön, schön.“
Simon drückte die Klinke der Krankenzimmertür runter, und alle drei traten ein. Sofort setzte sich Debora im Bett auf. Sie strahlte übers ganze Gesicht. „Echt super, dass ihr gekommen seid! Habt ihr sie dabei?“
„Hallo, Debora“, grüßte Opa fröhlich. „Bist du frisch und munter?“
„Klar, mir geht’s gut!“
Nach einem abwägenden Seitenblick zu Franziska und Mirko öffnete Simon den Rucksack, worauf die Welpen flink ihre Köpfchen herausstreckten.
„Gleich wird die Krankenschwester das Essen bringen!“ warnte Debora. „Was sollen wir jetzt machen?“
„Ein wenig Spaß haben“, schmunzelte Opa und verschwand auf den Korridor. Dort tastete er sich zum Toilettenraum hinüber und suchte drinnen die einzelnen WC-Kabinen. In einer davon holte er zielstrebig die Klopapier-Rolle heraus. Er legte sie in die angrenzende Kabine, tappte zurück zur ersten und schloss sich ein. Und dann drückte er auf den Alarmknopf.

Es dauerte keine Minute, bis Schwester Hildegard in den Toilettenraum hereineilte. Sie sah, dass nur ein Abteil das rote BESETZT-Schild trug, und fragte durch die Tür hindurch: „Ist da wer drin?“
„Ja, ich“, antwortete Opa.
„Und was ist los?“
„Ich habe ein Problem.“
„Was denn für eins?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen.“
„Warum denn nicht?“ Sie schaute ungeduldig auf ihre Uhr. „Wir könnten besser sprechen, wenn Sie vielleicht mal öffneten.“
„Das geht nicht.“
„Und weshalb nicht?“
„Weil ich nicht angekleidet bin“, brummte Großvater in seiner Kabine.
„Aber sonst geht es Ihnen gut?“
„Nein. Es ist kein Klopapier da.“
„Aha.“ Sie holte aus dem Abteil nebenan eine Rolle und schob sie unter der Trennwand hindurch. „Aber die Tür öffnen können Sie?“
„Sie meinen, wenn ich angekleidet wäre?“
„Ziehen Sie sich an“, forderte sie ihn auf. „Ich hole einen Ersatzschlüssel und schließe von außen auf.“
„Ja, wenn Sie meinen …“ Opa schmunzelte im Verborgenen und machte sich in aller Ruhe bereit. Als er nach einer Weile hörte, dass die Krankenschwester zurückkam, betätigte er die Spülung und verließ die WC-Kabine. Alle Zeit der Welt beanspruchend, tappte er zur Wand hinüber und lehnte sich aufatmend dagegen.
Schwester Hildegard beobachtete ihn aufmerksam und fragte sich, ob der alte Mann wohl einen Schwächeanfall hatte oder einfach nur sehr schlecht sah. „Sind Sie sicher, dass Sie in Ordnung sind?“
„Das schon“, murmelte er und stützte sich auf dem Waschbecken ab.
Der Krankenschwester kam die Sache nicht geheuer vor. „Wissen Sie, was? Wir beide gehen jetzt zu einem schönen Sessel im Flur“, schlug sie vor. „Da setzen Sie sich erst mal hin und ruhen sich ein bisschen aus. Und ich besorge Ihnen ein schönes Glas Wasser.“
„Das wäre wunderbar, mein Kind“, seufzte Opa, und als Schwester Hildegard sich bei ihm unterhakte, um ihm Halt zu geben, huschte ein schalkhaftes Lächeln über sein Gesicht.